04.02.2022
Zitat:
Eine Aufgabe für einen Herkules – was Juventus Turin von Denis Zakaria erwartet
Der neue Klub des Schweizer Nationalspielers ist ein Riese in einer Krise. Die nächsten Monate werden in Turin unruhig bleiben. Davon darf sich Zakaria nicht verunsichern lassen.
Denis Zakaria kommt zu einer alten Dame mitten im Reparaturbetrieb. Das kann eine Chance sein. Er muss aber auch aufpassen, dass seine Vielseitigkeit nicht zum Fluch wird, dass er nicht überall eingesetzt wird, weil er vieles kann, und dadurch sein Profil verliert.
Das erste Training im weiss-schwarzen Trikot nach dem Abgang bei Borussia Mönchengladbach verlief für den 25-Jährigen schon einmal gut. Im Ballett des Aufwärmtrainings fügten sich die schlanken Gliedmassen des Schweizer Nationalspielers harmonisch ins Bild. Bei Spielsequenzen fiel seine Schnelligkeit angenehm auf. Ein wenig schmächtig wirkte sein Körper freilich noch im Ensemble der Turiner Muskelmänner. Es ist eine Juve-Eigenart, dass filigranere Zuzüge schnell an Muskeln zulegen müssen. Nicht selten verlieren sie dabei an Leichtigkeit.
Zakaria und die Originalkrake
Paulo Dybala ging das schon so, auch Federico Chiesa und Federico Bernardeschi. Nur einer liess sich trotz Muskelwachstum die einstige Eleganz nicht austreiben: Paul Pogba. Mit der «Krake» wird Zakaria wegen seiner krakenartigen Beine nicht nur im Juve-Universum gern verglichen. Den Tifosi in der einstigen Heimstatt der Originalkrake Pogba gefallen solche Assoziationen aber ganz besonders.
Denn einen Charismatiker und Dynamiker braucht Juventus im zwar technisch feinen, sonst aber sehr anämischen Mittelfeld dringend. Die Equipe hat sich vom Weggang des Spielmachers Miralem Pjanic nie richtig erholt. Der war keinesfalls ein bissiger Typ wie Zakaria oder auch Pogba. Aber seine schlauen Pässe liessen Juventus tief in die Räume des Gegners vorstossen. Dieser liess sich überraschen, Juventus versprühte Spielwitz, zauberte mit Leidenschaft.
Neue Spieler kamen, aber weder Adrien Rabiot, Aaron Ramsey noch Arthur oder Dejan Kulusevski konnten die Lücke schliessen. Und weil ihnen auch der Biss des schon länger aus Turin verschwundenen Pogba fehlt, ist der Europameister Manuel Locatelli gleich doppelt gefordert. Mit feinem Fuss muss er das Spiel dirigieren und mit giftigem Fuss gegnerische Vorstösse unterbinden.
Locatelli ist mit dem Doppeljob aus Feinfuss und Giftfuss überfordert. Die meisten anderen Spieler wären es auch; eine schillernde Ausnahme wäre die Originalkrake Pogba. So gesehen ergibt die Verpflichtung Zakarias Sinn. In ihm erkennt Juventus den Kämpfer, den Interventionisten, den Unterbrecher gegnerischer Passströme. Sein Spiel im Mittelfeld soll variieren zwischen Dynamik gegen den Ball und, in der Offensivbewegung, Dynamik mit dem Ball. Hauptsache dabei: Zakaria bleibt dynamisch und begeht keine Fehler. Der Trainer Massimiliano Allegri habe ihm gesagt, was er in beiden Phasen von ihm erwarte, sagte Zakaria an der Pressekonferenz.
Das Schweizer Messer
Begierig wurden im Lande die Leistungsdaten Zakarias studiert, seine Geschwindigkeit (Höchstwert 35,62 km/h), die Präzision der Pässe (90,1 Prozent), vor allem aber die vielen Ballgewinne und gelungenen Dribblings. Das macht ihn in vieler Augen zu einer Allzweckwaffe, einer Art Schweizer Messer.
Allegri sieht ihn am ehesten wohl neben Locatelli in einem 4-2-3-1-System. Beide fungieren vor der Abwehr als eine Art Doppelfilter. Sie sollen die Aussenstürmer mit Bällen versorgen und feinen Fusses mit dem zentralen Ballverteiler Dybala kommunizieren. Der zweite Zugang des Winters, Dusan Vlahovic, ist die einzige Spitze, Juventus erhofft sich von ihm eine ähnliche Treffsicherheit wie zuletzt bei der Fiorentina. Mit diesem System stiessen die Bianconeri 2017 unter Allegri in den Final der Champions League vor. Es war das Vor-Ronaldo-System.
Bei Zakarias voraussichtlichem Debüt am Sonntag gegen Verona fehlt allerdings der designierte Idealpartner Locatelli wegen einer Sperre. In einem Dreiermittelfeld dürfte Allegri neben Zakaria Arthur und Rabiot aufbieten. Beide Spieler stehen auf der Verkaufsliste, sie sollen den bereits verabschiedeten Kulusevski, Ramsey und Rodrigo Betancur folgen. Zu sehr sollte sich Zakaria also nicht an diese Nebenleute gewöhnen. Im Sommer dürfte ohnehin gross nachgebessert werden. Echte Regisseure wie der Europameister Jorginho oder der bei Barcelona versauernde Frenkie de Jong stehen auf der Wunschliste. Auch das ewige Talent Nicolò Zaniolo soll von der Roma losgeeist werden.
Eine Mannschaft im Wandel
Zakaria hat in diesen Monaten des Übergangs die Chance, sich auf dem Platz und in der Kabine Gewicht zu verschaffen, um dann auch nach dem Sommer noch als Option zu gelten. Entscheidend ist, ob Juventus die Qualifikation zur Champions League gelingt. Richtungsweisend wird der Match in einer Woche gegen Atalanta, derzeit auf Platz 4, mit einem Punkt mehr und einem Match weniger.
Mehr noch als von Zakaria selber hängt der Erfolg des Klubs vom Auftreten Dusan Vlahovics ab. Der serbische Torjäger wird im Juventus-Dress allerdings nicht annähernd so viel Freiraum bekommen wie noch bei der Fiorentina. Gegen Juve rühren zumindest die Gegner in der Serie A traditionell mehr Defensivbeton an. Vlahovics Bilanz ist wiederum von Bällen aus dem Mittelfeld abhängig. Und da haperte es bei der Juve in letzter Zeit. Zakaria soll auch hier Abhilfe schaffen.
Seine Aufgabe ist komplex. Er muss sich einfügen ins neue Ambiente, darf sich zugleich von der Drehtür-Atmosphäre des Kommens und Gehens nicht verunsichern lassen – und muss einem einstigen Grossklub, der gerade mächtig schwächelt, zu mehr Substanz verhelfen. Eine Aufgabe für einen Herkules, nicht nur für eine Krake.
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